Editorial

KRISEN HABEN
EINEN WERT

Liebe Leserinnen und Leser,

nach mehr als zwei Jahren pandemiebedingten Stillstands und streckenweiser Fahrt mit mal mehr, mal weniger angezogener Handbremse sind die strukturellen Verwerfungen in Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland unübersehbar. Wie unter einem Brennglas sichtbar geworden sind aber auch Unwuchten und Defizite in der Effizienz staatlichen Handelns. Fast 70 Prozent der Niedersachsen kritisieren mittlerweile, wie die öffentlichen Stellen ihre Aufgaben wahrnehmen – ein in der Corona-Pandemie hochgeschossener, nie zuvor gemessener Rekordwert. Dahinter steht eine wachsende Unzufriedenheit, die nicht nur daran festzumachen ist, wie lange es mittlerweile braucht, dass Reisepässe verlängert, Anträge auf Erziehungsgeld bearbeitet und Autos zugelassen werden können.

Dahinter steht auch ein nachlassendes Vertrauen in die Kompetenz und Lauterkeit staatlichen Handelns. Ist unser Gemein­wesen noch steuerbar? Diese Frage muss erlaubt sein, beobachtet man doch bei zahlreichen Entscheidungen eine Bruchstelle zwischen Entscheidungs- und Durchführungsebene. Vielfach werden Entscheidungen getroffen, ohne dass deren Durchführbarkeit gesichert und die Konsequenzen hinreichend bedacht zu sein scheinen. Die Bekämpfung der Pandemie hält zahlreiche Beispiele bereit.

Nicht minder irritierend ist der Gleichmut, mit dem Medien und Gesellschaft mittlerweile die pausenlosen Kassandrarufe verantwortlicher Politiker zur Kenntnis nehmen. Wie existenzgefährdend müsste etwa die Behauptung des neuen Bundesgesundheitsministers, Corona werde uns noch vier Jahre beschäftigen, auf die Überlebensfähigkeit von Branchen zurückschlagen, die im Veranstaltungsbereich ums Überleben kämpfen – vom Bühnenbauer über die Konzertagentur bis zur Schauspielschule. Welche Auszubildende entscheiden sich noch für diese Branchen? Wie viele der dort Beschäftigten halten nach solchen Feststellungen eines Bundesministers nicht erst recht Ausschau nach einem neuen Job in einer anderen Branche? Mediale Dauerpräsenz um jeden Preis kann nicht der Maßstab sein für Politiker, die das Gemeinwohl als Maxime der Politik verfolgen sollten.

Krisen haben den Wert, Fehlentwicklungen leichter offen­zulegen. Ein öffentlicher Diskurs über das Auseinanderlaufen von Entscheidungs- und Durchführungsebene im politischen Prozess, über das mangelnde Verständnis für grund­legende ökonomische Zusammenhänge in wachsenden Teilen der Politik und im Zusammenhang damit über die Rekru­tierungswege der politischen Parteien bei der Auswahl ihres Führungspersonals wie auch über die Ursachen der nachlassenden Bereitschaft der wirtschaftlichen Elite, sich politisch zu engagieren – dies alles erscheint notwendiger denn je. Und es sollte beim Diskurs nicht bleiben.

Zu groß sind die Herausforderungen für den Industriestandort Deutschland, um mit einem munteren „weiter so“, das heißt, ohne ein hinreichendes Maß an technologischer und ökologischer „Erdung“, Ziel auf Ziel zu formulieren, etwa in der Energie- und Klimapolitik. So wird derzeit in unserem Land in einem Umfang gesicherte Stromleistung stillgelegt, dass wir nicht mehr die Frage belastbar beantworten können, wo denn der Strom der Zukunft zuverlässig herkommen soll.

Dass wir den technologischen Fortschritt nur mit Know-how werden vorantreiben können und dafür die Fachkräfte der Zukunft brauchen – dafür steht die IdeenExpo, die europaweit größte Technik-Show für junge Leute, die wir in diesem Jahr ein achtes Mal durchführen werden (Seite 24). Die Forscher von morgen können wir gar nicht früh genug begeistern, denn auch Fachkräfte haben Lieferzeit.

Um mit Erich Kästner zu sagen: „Sie sehen, es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Und lassen Sie mich in Abwandlung eines Zitats von Konrad Adenauer ergänzen: „Fallen ist weder gefährlich noch eine Schande, liegen bleiben schon.“

Es grüßt Sie herzlich

Ihr

Dr. Volker Schmidt

Hauptgeschäftsführer NiedersachsenMetall
Verband der Metallindustriellen Niedersachsens e.V.


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