Die Lage der Industrie

Wir haben die Möglichkeit verschenkt, vom Fortschritt zu profitieren

Die Energiepolitik der Regierung von Olaf Scholz ist ambitioniert und konzentriert sich weitgehend auf die erneuerbaren Energien. Das wird fatale Folgen haben, ist sich der Wissenschaftler und frühere Hamburger Umweltsenator Professor Dr. Fritz Vahrenholt sicher. Er fordert Technologieoffenheit – auch hinsichtlich der Atomkraft.

Prof. Dr. Fritz Vahrenholt ...

... promovierter Chemiker, ist ein deutscher Politiker (SPD), Manager, Wissenschaftler und Buchautor. Er begann seine Karriere 1976 im Umweltbundesamt und wechselte dann ins hessische Umweltministerium, bevor er 1984 Staatsrat bei der Umweltbehörde in Hamburg wurde.

Danach war Vahrenholt Chef der Hamburger Senatskanzlei und nahm als Vertreter Hamburgs an den Verhandlungen zur Deutschen Einheit teil. Von 1991 bis 1997 war er als Umweltsenator tätig. Anschließend ging Vahrenholt als Vorstand für Erneuerbare Energien zur Deutschen Shell AG. 2001 gründete er den Windenergie-Anlagenbauer REpower Systems und wurde dort Vorstandschef. Von 2008 bis Mitte 2012 leitete er die neu gegründete Konzern – Gesellschaft für Erneuerbare Energien der RWE AG, Innogy GmbH.

Von 2012 bis 2019 war er Alleinvorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. Seit 1999 ist er Honorarprofessor im Fachbereich Chemie der Universität Hamburg. Er ist des weiteren Mitglied der deutschen Akademie der Technikwissenschaften Acatech.

Herr Professor Vahrenholt, der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland haben zu einem Paradigmenwechsel geführt, schon zum nächsten Winter will Deutschland nicht mehr den Großteil seines Gases aus Russland beziehen. Was bedeutet das für unsere Energieversorgung?

Die Gasspeicher in Deutschland sind aktuell nur zu einem Drittel gefüllt und leeren sich jeden Tag um etwa ein Prozent. Wird das Frühjahr so wie im vergangenen Jahr eher kühl, so sind die Speicher bei einem Stopp der russischen Lieferungen bald leer. Für einen solchen Fall greifen Pläne der europäischen Gassicherheitsversorgung: Darin ist festgelegt, dass die Gasversorgung der Industrie eingestellt werden kann und nur noch die „geschützten Verbraucher“ wie Haushalte und Heizwerke beliefert werden.

Wie wirkt sich ein weitgehender Boykott des russischen Erdgases auf die Pläne zur Energiewende aus?

Der Stopp der Inbetriebnahme der fertiggestellten Gaspipeline Nordstream 2 sowie das Vorhaben, den Ankauf von russischem Gas auf ein Minimum zu begrenzen, haben Konsequenzen für die Energiewende. Nach dem Doppelausstieg aus Kohle und Kernenergie war klar, dass die gesicherte Leistung der konventionellen Kraftwerke nur durch einen erheblichen Import von Erdgas sichergestellt werden könnte. Selbst der forcierte Ausbau von Wind- und Solarenergie löst das Problem der Volatilität der Erneuerbaren Energieerzeugung nicht. Wind steht eben nur mit einem Viertel der Volllaststundenzahl des Jahres zur Verfügung, Sonne nur zu etwa einem Zehntel. Jeder weitere Zubau mit Windkraft- und Solaranlagen erhöht damit die Notwendigkeit von verlässlichen Backup-Kraftwerken, solange Speicher nicht zur Verfügung stehen.

Zukunft Wind: Bis 2030 sollen Wind- und Solarenergie 80 Prozent des Strombedarfs decken – eine Utopie, ist Vahrenholt sicher.

Foto: gettyimages (satit_srihin)

Dennoch bleibt die Ampel-Koalition dabei, dass 2030 80 Prozent unseres Strombedarfs durch Solar- und Windenergieanlagen gedeckt werden sollen. Steuert Deutschland schon bald auf einen flächendeckenden Blackout zu?

Die Gasabhängigkeit wird sich erneut verstärkt in den nächsten Wintern stellen. Bleiben wir bei der derzeitigen Linie, werden wir uns zumindest auf Stromknappheit einstellen müssen. Die letzten sechs deutschen Atomkraftwerke gehen innerhalb von 12 Monaten vom Netz. Sie machen elf Prozent der derzeitigen Stromversorgung aus. Darüber hinaus ist durch die Koalition bis 2030 „idealerweise“ auch der Ausstieg aus der Kohle geplant. Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist aber noch längst nicht weit genug fortgeschritten, um die entstehenden Lücken zu schließen. Dazu kommt die Dunkelflaute bei Wind- und Solarkraft. Selbst wenn durch Wind und Sonne 80 Prozent der gesamten benötigten Strommenge produziert werden könnten, so ist der Strom nicht immer auch dann vorhanden, wenn er gebraucht wird. Im Winter können solche wind- und sonnenfreien Zeiten auch mal gut zehn Tage andauern. Dann haben wir nur den Import und Gaskraftwerke als zuverlässige Stromquellen. Die Folge ist, dass Strom immer wieder knapp wird und die Preise weiter steigen. Ich glaube, dass die Beteiligten mit aller Kraft versuchen werden, Blackouts zu vermeiden. Doch wir werden uns darauf einstellen müssen, dass Ortschaften und ganze Regionen immer wieder zeitweise keinen Strom haben werden.

Das klingt sehr pessimistisch …

Geht die Politik den bisher eingeschlagenen Weg zu Ende, wird uns aber genau das erwarten. Wir dürfen die Augen nicht vor den Folgen dieser energiepolitischen Ziele verschließen. Momentan nutzen wir Erdgas für die Versorgung mit Wärme, Öl für die Mobilität und Strom für Kraft und Licht. In Zukunft soll das alles über Strom erzeugt werden, was eine enorme Steigerung des Strombedarfs mit sich bringt. Und der wiederum soll fast ausschließlich aus erneuerbaren Energien kommen. Damit machen wir uns völlig abhängig von der Natur und ihren Launen.

Aber das Problem der schwankenden Strommengen soll doch mithilfe von Speichern gelöst werden.

Derzeit gibt es drei infrage kommende Speichertechnologien und alle können die sich auftuende Lücke nicht schließen. Deutschland verbraucht heute im Durchschnitt rund 1,6 Terawattstunden Strom pro Tag. 2045 sollen auch Wärme und Verkehr frei von fossilen Brennstoffen sein. Daraus ergeben sich nach Berechnungen der Akademie der Technikwissenschaften Acatech 2,4 Terawattstunden pro Tag, was ich für deutlich zu wenig halte. Bei zehn Tagen Dunkelflaute benötigt man also mindestens 24 Terawattstunden aus anderen Energiequellen.

Was ist mit großen, stationären Batterien, an denen seit Jahren intensiv geforscht wird?

Batterien eignen sich als Kurzzeitspeicher, etwa, um den Stromüberschuss vom Mittag für den Abend aufzusparen. Hier geht es aber um Kapazitäten, die ganzjährig speichern können. Die Kosten dafür wären astronomisch. Heruntergebrochen auf eine Kilowattstunde kostet die Investition in eine Lithiumbatterie heute rund 100 Euro pro Kilowattstunde, für 24 Terawattstunden würden sich die Kosten auf 2400 Milliarden Euro belaufen. Und nach acht Jahren wären die Batterien zu ersetzen.

Bleibt noch der Wasserstoff …

Wasserstoff ist in der Tat derzeit die einzige, infrage kommende Speichermöglichkeit, um den Strombedarf flexibel zu decken. Doch auch hier gibt es ein großes Aber. Denn bei der Umwandlung von Strom mittels Elektrolyse in Wasserstoff und der Rückverstromung verliert man mehr als zwei Drittel der ursprünglichen Energie. Das schlägt sich auch in den Kosten nieder. So kostet eine Kilowattstunde rückverstromt aus Wasserstoff heute bis zu 50 Cent. Bei solchen Strompreisen ist jede Wettbewerbsfähigkeit dahin. Für die Industrie wird Wasserstoff allerdings weiter als Ersatz für Kohle und Gas interessant sein, denn dort wird oft keine Rückverstromung gebraucht. Allerdings sind die Kosten immer noch nicht wettbewerbsfähig und bedürfen der nachhaltigen Unterstützung des Staates. Und die Mengen werden nicht zur Verfügung stehen. Allein die Stahl­industrie braucht 100 Terawattstunden, die chemi­sche Industrie 600 Terawattstunden – so viel Strom wie wir heute insgesamt erzeugen.

Also gibt es eigentlich keine Möglichkeit, Energie klimafreundlich zu erzeugen und trotzdem die Versorgung jederzeit zu gewährleisten?

Doch die gibt es, und in vielen Ländern wird daran auch schon mit Erfolg geforscht. In Deutschland ist der Weg jedoch durch politische Entscheidungen versperrt.

Verlässliche Lieferanten: Laut Vahrenholt braucht der ideale Strommix auch verlässliche Produzenten wie Gaskraftwerke.

Foto: gettyimages (zhongguo))

Wie das?

Da wäre etwa die sogenannte Carbon Capture Sequestration, kurz CCS. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, bei dem CO2 aus Abgasen abgetrennt und in tiefer gelegene Erdschichten gepresst wird. 2010 gab es das CCS-Modellkraftwerk „Schwarze Pumpe“ in Ostdeutschland. Weitere CO2-freie Kraftwerke waren geplant. Ein Teil des abgetrennten CO2 sollte in tiefen Schichten Schleswig-Holsteins verpresst werden, so wie wir das mit Erdgas auch tun. Es kam zu großen Protesten von Umweltaktivisten, Verbänden und Bürgern. Der heutige Wirtschaftsminister erklärte damals, dass Schleswig-Holstein nicht die CO2-Müllhalde der Nation sein wolle. In der Folge wurde CCS vom Bundestag verboten, die Anlage "Schwarze Pumpe" stillgelegt und anschließend nach Kanada verkauft. Dort läuft sie noch heute. Zudem forschen mittlerweile mehrere Länder an CCS und pressen CO2 unter anderem in Gesteinsschichten unter der Nordsee. Man kann davon ausgehen, dass die Technologie also irgendwann ihren Weg zurück nach Deutschland finden wird. Aber die Möglichkeit, an diesem Fortschritt für die gesamte Welt mitzuwirken und davon zu profitieren, die haben wir verschenkt.

Die zweite Entscheidung, die Sie sehr bedauern, ist der Ausstieg aus der Atomkraft. Warum?

Die Stillegung der sechs letzten Kernkraftwerke kostet die Stromkunden 3 Milliarden Euro im Jahr. Noch schlimmer aber ist das Forschungsverbot für Kern­technik. Es wird sich meines Erachtens nicht unbegrenzt aufrechterhalten lassen. Die Probleme in der Stromversorgung werden zu groß und die Preise für Energie zu teuer werden. Aber auch hier werden wir in Deutschland das Entwicklungstempo nicht mehr mitbestimmen.

Was unterscheidet denn die Atomkraftwerke, an denen Länder wie die USA oder Dänemark forschen, von denen, die wir kennen?

Die Kraftwerke der sogenannten IV. Generation sind so ausgelegt, dass ein Durchgehen des Reaktors naturwissenschaftlich nicht möglich ist – man spricht von inhärenter Sicherheit. Ein großes Problem bei den bestehenden AKW ist die Kernschmelze, die man durch stetiges Kühlen der Brennstäbe verhindert. Der Dual-­Fluid-Reaktor, an dessen Prototypen in Kanada geforscht wird, nutzt statt Brennstäben zwei zirkulierende Flüssigkeiten, die eine trägt den Brennstoff, die andere führt die Wärme ab. Wenn sich die Brennstoffflüssigkeit erhitzt, dehnt sie sich aus. In der Folge nimmt die atomare Reaktivität automatisch ab und die Temperatur sinkt. Das zweite Problem, das diese sogenannten schnellen Reaktoren lösen, ist die Endlagerung. Abgebrannte Brennelemente können aufbereitet und stark radioaktive Elemente wie Plutonium in den Kreislauf zurückgeführt werden. Übrig bleiben nur Spaltprodukte mit vergleichsweise kurzer Halbwertszeit. Ein geologisches Endlager wird für Abfälle aus diesen AKW also nicht gebraucht. Der bestehende Atommüll, der „transmutiert“ wird, könnte Deutschland viele hundert Jahre mit Strom versorgen.

Der Bundeskanzler hat nun den raschen Ausbau von LNG-Terminals in Niedersachsen angekündigt. Aber kann die Einfuhr von Flüssiggas überhaupt einen nennenswerten Unterschied bei der Strom- und Wärmeversorgung machen?

Die Alternative von Flüssiggasanlandungen stellt sich für Deutschland vorerst nicht, da Protest bislang die Flüssiggasterminals an der Nordseeküste verhindert hat, und es Jahre dauert, nun diese Terminals einzurichten. Zwar haben die LNG-Terminals an der westeuropäischen Küste von Spanien bis Holland noch Aufnahmekapazität, aber es fehlt die Infrastruktur, dieses Gas in ausreichender Menge nach Mittel- und Osteuropa zu transportieren. Das große holländische Gasfeld Groningen, aus dem auch Deutschland bedient wurde, wird im ersten Halbjahr 2022 stillgelegt, da die Entnahme des Gases zu großräumigen Setzrissen geführt hat. Und das Umlenken der nach Asien gerichteten Gasexporte aus USA und Katar hätte zumindest eine Folge: erhebliche Preisaufschläge in einem Bieterwettstreit um amerikanisches Schiefergas und katarisches Gas.

Wie muss Deutschland seine Energiepolitik jetzt gestalten, um massive Energieengpässe zu verhindern?

Wie beim Thema militärische Aufrüstung ist auch in der Energiepolitik die Zeit für Tabubrüche und technologische Innovation gekommen, um die Kriegserklärung Putins an die europäische Sicherheit zu beantworten. Die Reduktion der zukünftigen Energieversorgung auf Windenergie, Photovoltaik und Erdgas trägt nicht mehr. Wir brauchen ein Moratorium zum Ausstieg aus der Kohle. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine müssen wir die Importabhängigkeit verringern. Heimische Braunkohle ist hierzu ein wichtiger Schlüssel. Die drei verbliebenen Atomkraftwerke müssen erhalten bleiben. Und die Forschung an neuen Reaktorkonzepten im Atomgesetz muss wieder geöffnet werden. Klar ist aber auch, dass wir im Verlauf des Jahrhunderts CO2 reduzieren müssen und dazu gehören drei Säulen: der Ausbau der erneuerbaren Energien, die Nutzung von CCS und die Weiterentwicklung der Kernenergie. Ich war ja ein Pionier der erneuerbaren Energien – eine der ersten Fünf-Mega­watt-Offshore Windkraftanlagen in der Nordsee trägt meinen Vornamen: Fritz. Aber mir war immer klar, dass Erneuerbare Energien niemals 100 Prozent der Energieversorgung einer hochentwickelten Volkswirtschaft abdecken können. Neben der ökologischen Frage müssen die zwei anderen Säulen einer nachhaltigen Energieversorgung nun dringend einen höheren Stellenwert bekommen: die der Wirtschaftlichkeit und die der Versorgungssicherheit.

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