Editorial

Grenz-
erfahrungen

Liebe Leserinnen und Leser,

der Tarifabschluss in der Metall- und Elek­tro-Industrie liegt vor. Es ist ein hart errungener Kompromiss in schwerer Zeit. 5,2 und 3,3 Prozent in zwei Schritten in der Tabelle, zusätzlich in Summe 3.000 Euro netto für Vollzeiter. Viele unserer Unternehmen werden große Schwierigkeiten haben, dies zu stemmen, schwerpunktmäßig diejenigen, die im Automotive-Bereich tätig sind. Der Abschluss geht zu Lasten der Margen und damit zu Lasten der Investitionstätigkeit. Viele Betriebe werden doppelt zur Kasse gebeten: Erst die Preisexplosion bei Rohstoffen und Vormaterialien, jetzt zusätzlich deutlich steigende Lohnkosten.

Tarifpartnerschaft bedeutet, auch um die Grenzen des Zumutbaren der anderen Seite zu wissen. Dieses ist mit den beiden vorangegangenen Krisentarifabschlüssen in 2020 und 2021 ohne Zweifel gelungen. Mit dem Ergebnis, dass die vielerorts befürchtete Insolvenzwelle ausgeblieben ist und trotz harter Produktionseinbrüche die Betriebe stabilisiert werden konnten. Doch dieses Mal hat die IG Metall in der Hochlohnbranche M+E überrissen. Flankiert von einer Politik der Bundesregierung, die, zweifelsohne gut gemeint, mit der ins Schaufenster gestellten Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro eben nicht zu einer Entlastung der Tarifverhandlungen beigetragen hat, sondern einem Höherschrauben des Abschlusses Vorschub leistete. Ein teures Geschenk zu Lasten Dritter, das vollends fragwürdig wird, weil offenbar nicht wenige Beschäftigte der Auffassung sind, die 3.000 Euro seien ein Geschenk der Bundesregierung.

Das Ende vom Lied ist, dass „8,5 Prozent und 3.000 Euro“ fortan bei allen demnächst ins Haus stehenden Tarifverhandlungen wie der berühmte Elefant im Raum stehen werden. Und es aus heutiger Zeit schwer fällt zu glauben, etwa Ver.di ließe sich bei den anstehenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst von Mäßigung leiten. Von diesen Tarifabschlüssen bis zu der befürchteten Lohn-Preis-Spirale ist es nur ein kurzer Weg. Jede kräftige Beschleunigung des Preisauftriebs geht am Ende immer zu Lasten der kleinen Leute, dies lehren alle Erfahrungen der Wirtschaftsgeschichte. Genauso, wie eine Politik, die auf Preisstabilität setzt, seit jeher die beste Form der Sozialpolitik ist.

Die Frage drängt sich auf: Will die Bundes­regierung bei einer Verfestigung der Inflation über 2023 hinaus dann wieder mit einer neuen Inflationsausgleichsprämie wedeln? Dass niemand dies zum jetzigen Zeitpunkt völlig ausschließen kann, zeigt, wie prinzipienlos, ja beliebig, die Politik in Deutschland mittlerweile geworden ist. Damit kein Missverständnis entsteht: Um die Preiseffekte der schlimmsten Verwerfungen an den Strom- und Gasmärkten in der Wirkung auf Unternehmen und Privathaushalte vorübergehend zu kappen, haben Strom- und Gaspreisbremse eine Berechtigung. Sie sind in der stabilisierenden Wirkung auf die gesamte Volkswirtschaft nicht kleinzureden.

Doch was kommt danach? Wer in der Politik, im Land wie im Bund, bringt noch ernsthaft den Mut auf, den schlichten Umstand in Erinnerung zu bringen, dass der Staat eben nicht über ein Füllhorn verfügt, das er beliebig oft über die geschätzten Wahlbürger ausschütten kann. Meinungsforscher berichten mir, dass die Aussage, die öffentliche Verschuldung nicht noch weiter nach oben zu drehen, sprich auf solide Staatsfinanzen zu beharren, in Deutschland nicht (mehr) zwingend mehrheitsfähig ist. Anders als noch vor 20, 30 Jahren.

Dass grundlegende ökonomische Zusammenhänge offenkundig immer größeren Teilen der Bevölkerung verschlossen bleiben, ist eine Beobachtung, die nicht nur wir seit Jahren machen. Aus einer Reihe von Gründen, beginnend bereits in der Schule. Dass die Grundlagen der Makroökonomie nicht unbedingt Twitter-tauglich sind und selbst anerkannte Printmedien mittlerweile Schwierigkeiten haben, ihre Wirtschaftsredaktionen noch kompetent zu besetzen, macht die Sache nicht leichter. Aber auch die Wählerstruktur bei Bundes- und Landtagswahlen hat sich zuletzt stark zu Lasten derjenigen verschoben, die voll berufstätig sind und in der Privatwirtschaft arbeiten: 21,5 Mio. Rentner, mehr als 6 Mio. Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit steigender Tendenz, 4,5 Mio. Empfänger von Arbeitslosengeld I und II und 1,7 Mio. Pensionäre des öffentlichen Dienstes. Zusammen fast 34 Mio. Menschen über 18 Jahre, die im Wesentlichen staatlich alimentiert werden – bei 60 Mio. Wahlberechtigten.

„Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, heißt es bei Karl Marx. Wer in Deutschland politisch mehrheitsfähig sein will, wird diese Wählerstrukturen nicht ausblenden können – mit allen Konsequenzen für die Verfasstheit unserer Gesellschaft, mit Blick auf Motivationsgefüge und Innovationsbereitschaft, Risikobereitschaft und Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem. Und eben auch mit Blick auf die grundlegende Einstellung gegenüber der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen.

Ich wünsche Ihnen eine besinnliche Zeit zum Jahresausklang und allen derzeitigen Prognosen zum Trotz Zuversicht und Erfolg im neuen Jahr 2023!

Ihr

Dr. Volker Schmidt

Hauptgeschäftsführer NiedersachsenMetall
Verband der Metallindustriellen Niedersachsens e.V.


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